"Bericht über ein zerstörtes Land" von unserem Mitglied Sybille Stier

“Bericht über ein zerstörtes Land”

Wir sitzen in der Mittagssonne, in Bethlehem neben einem Orangenbaum. In der Ferne ertönt der Muezzin, von der anderen Seite hört man die Kirchenglocken der St. Nicolaus Kirche in Beit Jala, dem anderen Stadtteil Bethlehems.
Und manchmal wird die scheinbar friedliche Stimmung unterbrochen durch kurze, dumpfe Detonationen – die Einheimischen wissen es – hier werden Raketen aus dem Yemen mit israelischen Drohnen abgefangen. Militärjets durchbrechen die Luft, kurzzeitig steht alles andere still.
Die Bazarstraßen sind wie ausgestorben, die Hotels, selbst das berühmte Banksyhotel an der Mauer haben geschlossen und verwundert wird man begrüßt - „Wie schön, dass du da bist“.

Wir arbeiten hier seit Jahren, bieten Workshops an für Musiktherapie, an denen Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen und Lehrer*innen teilnehmen. Organisiert wird das Ganze von unserer Partnerorganisation „Wings of Hope for Trauma“, mit der wir von Anfang an zusammenarbeiten.

Die Situation dieses Mal ist eine völlig andere. Das Land lebt im Krieg. Es unterliegt einer ethnischen Säuberung, die durch nichts mehr zu rechtfertigen ist.

Helga Baumgarten, eine Politikwissenschaftlerin und Journalistin, die seit 1993 an der Birzeit-Universität in Ramallah unterrichtet und eine der fundiertesten Kennerinnen der politischen Situation des Nahen Ostens ist, nennt in ihrem neuen Buch „Völkermord in Gaza“ (erschienen bei ProMedia-Verlag) Zahlen, die niemand hier kennt – niemand kennen soll, weil es kaum möglich ist, nicht darauf zu reagieren.
So veröffentlichte am 12.5.25  Ocha – das United Nation Office for the Coordination of Human Affairs:
„Auf israelischer Seite wurden seit dem 7.Oktober 2023 408 Soldat*innen getötet und 2612 verletzt. In Gaza wurden 160.000 Menschen getötet, davon 16.000 Kinder, 92% zwischen 6 Monaten und 2 Jahren sind kaum mehr überlebensfähig, es gibt mittlerweile mindestens 120.000 Verletzte, 91 % leiden unter Mangelerscheinungen, 300.000 Häuser sind zerstört, 90% der Schulen und Universitäten und 70% der Krankenhäuser, die verbliebenen sind nur sehr rudimentär einsatzbereit.“

Etliche Ärzte wurden laut Human Right Watch festgenommen und in Sde Teiman festgehalten.
Sde Teiman, ursprünglich ein Militärstützpunkt, dient seit Beginn des israelischen Genozids an den Palästinenser*innen im Oktober 2023 als Internierungslager. Es hat die höchste Gefangenenzahl aller Internierungslager Israels und liegt in der Negev-Wüste, nur 29 Kilometer von der Grenze Gazas entfernt. Amnesty-Chefin Agnès Callamard erklärte, Israel habe „Hunderte palästinensischer Mitarbeiter des Gesundheitswesens aus dem Gazastreifen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren festgenommen“ und sagte, sie seien „Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt und in Isolationshaft gehalten worden“. So z.B. Dr. Hussam Abu Safiya. Er ist palästinensischer Arzt und Menschenrechtsverteidiger, der im Norden des Gazastreifens in Palästina lebt. Er ist Kinderarzt und Direktor des Kamal-Adwan-Krankenhauses, das im November 2024 mit nur zwei verbliebenen Ärzten eines der letzten kaum funktionierenden Krankenhäuser im Norden war. Seit Beginn des israelischen Völkermords im Gazastreifen weigerte sich der Menschenrechtsverteidiger, das Krankenhaus wie von den israelischen Streitkräften angeordnet zu räumen, aus Angst, seine Patienten im Stich zu lassen. Am 25. Oktober 2024 stürmte das israelische Militär brutal das Krankenhaus, bombardierte die Gebäude, nahm zahlreiche Patienten und das gesamte Krankenhauspersonal fest und tötete Hussam Abu Safiyas Sohn, weil sein Vater sich weigerte, das Krankenhaus zu verlassen.
Dies ist nur ein Fall von vielen.

 In der erschreckenden YouTube – Dokumentation „Kids under Fire“ wird von den wenigen verbliebenen internationalen Ärzten berichtet, wie sie gezielte Tötungen an Kindern festgestellt haben.
Und auch im sog. Westjordanland ist es heute kein Problem mehr, dass radikale Siedler in Selbstjustiz die palästinensischen Bewohner erschießen.
Vom 1.1.24 bis Mai 25 wurden 44.000 Menschen aus den Flüchtlingslagern vertrieben,
600 Menschen getötet, davon 109 Kinder, 800 Kinder wurden verletzt, viele verloren Gliedmaße.
Es gab 1800 Angriffe von Siedlern.

Ich möchte darauf hinweisen, dass Israel bis heute weder eine formale Verfassung noch ein staatliches Grundgesetz besitzt. Als quasi-verfassungsrechtliche Grundlagen gelten die Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 und die in den vergangenen Jahrzehnten durch die Knesset verabschiedeten so genannten „Grundgesetze“6 („Basic Laws“).
In der Unabhängigkeitserklärung hält der Staat Israel folgendes fest:

„Er (der neue Staat) wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestutzt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben
Wir bieten allen unseren Nachbarstaaten und ihren Völkern die Hand zum Frieden den und guter Nachbarschaft und rufen zur Zusammenarbeit und gegenseitigen Hilfe mit dem selbständigen jüdischen Volk in seiner Heimat auf. Der Staat Israel ist bereit, seinen Beitrag bei gemeinsamen Bemühungen um den Fortschritt des gesamten Nahen Ostens zu leisten.“

Ich stoße auf Jeshajahu Leibowitz, geb.1903 in Riga, gestorben 1994 in Jerusalem, einen scharfsinnigen israelischer Naturwissenschaftler und Religionsphilosoph, der fast sechs Jahrzehnte lang an der Hebräischen Universität Jerusalem Vorlesungen hielt.
Seit 1967 beschäftigte er sich mit der Besatzung der palästinensischen Gebiete und in der Folge mit „dem zunehmenden moralischen Verfall“ in Israel. Er war ein zutiefst religiöser Mensch, der dennoch die Trennung von Staat und Religion forderte. Er scheute sich nicht, die Siedler*innen in den besetzten Gebieten und Ariel Scharon damals öffentlich als Faschisten zu bezeichnen.
Er wurde, wie so viele andere, nicht gehört.

Mittlerweile prangern etliche israelische Intellektuelle wie Moshe Zimmermann, Gideon Levy von der Zeitung Haaretz, Jeff Halper, Ilan Pappe, um nur einige zu nennen, das Vorgehen der israelischen Regierung und vor allem das Nichtreagieren der westlichen Staaten an.

Und ich möchte aussprechen, was mittlerweile tausende von Menschen denken, nein sie erwarten es: Wann reagiert die deutsche Regierung auf diesen Genozid? Ja, wir haben eine Verpflichtung, wir haben eine 60jährige, fundierte Freundschaft zu Israel. Aber in der „normalen“ Rechtsprechung werde ich der Mittäterschaft angeklagt, wenn ich einem Freund, der mordet, noch weitere Messer liefere. Die Bundesrepublik unterstützt Israel in diesem Krieg mit 30% der Waffen.

Unsere Politiker werden nicht müde, das Gebet der Staatsräson herunterzuleiern, wohlwissend, dass die unbedingt geforderte Kritik an der israelischen Regierung nichts mit Antisemitismus zu tun hat, wohlwissend auch, dass ihre Untätigkeit allerdings ein gefährliches Erstarken des Antisemitismus zur Folge hat.

Was kann ein Politiker noch verlieren außer seiner Würde – ach ja, seinen Posten. Dann sind ihm natürlich die Hände gebunden. Schade. Und menschenverachtend dazu.

Ich sitze in Bethlehem unter einem Orangenbaum und schaue zu, wie die Menschen weinen und kann nichts tun.