Die Lehre aus der Geschichte kann doch nicht sein, dass Auschwitz als Freibrief für Menschenrechtsverletzungen herhalten soll, weder in Deutschland noch in Israel 

Leserbrief von Judith Bernstein zu „Jeder vierte Deutsche denkt antisemitisch“ in SZ 24.10.2019, S. 1: - V 14.11.19

Der Antisemitismus ist so alt wie Menschengedenken. Selbstverständlich muss man ihn – wie jede Form des Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – bekämpfen. Wir müssen uns alle gegen die Angriffe auf Juden und andere Minderheiten wehren, denn sie bedrohen unsere Demokratie. 

Ich lebe seit 43 Jahren in Deutschland und habe persönlich nie Antisemitismus erfahren. Meine Mutter, die 1935 von Deutschland nach Palästina fliehen musste und deren Eltern in Auschwitz ermordet wurden, besuchte mich Ende der 1970er Jahre. Die vielen Zeitungsartikel, Radio- und Fernsehsendungen zum Thema Holocaust haben sie damals zu der Frage veranlasst: „Wann werden die jungen Deutschen von der Geschichte über den Holocaust genug haben?“. Heute frage auch ich mich, welche Lehren aus Auschwitz gezogen worden sind, wenn Juden, Muslime und Geflüchteten auf offener Straße angegriffen werden. 

Als mein Mann und ich vor mehr als zehn Jahren im Auswärtigen Amt Gespräche führten, wurden wir mit dem Satz empfangen, man mache sich große Sorgen um den wachsenden Antisemitismus, und zwar ausgehend von der israelischen Politik. Unsere Antwort darauf lautete: Sorgen Sie dafür, dass die Bundesregierung auch für die Rechte der Palästinenser eintritt. Mittlerweile ist es so weit gekommen, dass jede Kritik an der israelischen Politik in den Verdacht des Antisemitismus gerät. Damit wird der tatsächliche Antisemitismus verharmlost. Der Präsident des Jüdischen Weltkongresses Ronald Lauder hat sich vor nicht allzu langer Zeit unter Berufung auf Gott (!) vor die israelischen Politik gestellt. 

Ist es Zufall, dass ich aufgrund meiner Kritik an der israelischen Regierung von interessierter jüdischer Seite und ihren nichtjüdischen Trabanten als selbsthassende Jüdin diffamiert werden soll mit dem Ergebnis, dass ich gemäß einem Münchner Stadtratsbeschluss nicht über meine Geburtsstadt Jerusalem in kommunalen Räumen berichten darf? 

Das Judentum ist so vielfältig wie jede andere Religion – warum wird das öffentlich nicht wahrgenommen? Warum wird nur von den Repräsentanten der Gemeinden berichtet, nicht aber von denen, die sich von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht unterscheiden? Sind die vielen vor allem jungen Israelis keine Juden, wenn sie ihrem Staat den Rücken kehren und sich in Berlin niederlassen? 

Es gibt kein Volk, das sich in der Politik, in den Medien, in Bildungseinrichtungen und in der Wissenschaft so ausführlich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat wie das deutsche, und doch erleben wir, dass Antisemitismusbeauftragte als Alibi berufen werden. Die Lehre aus der Geschichte kann doch nicht sein, dass Auschwitz als Freibrief für Menschenrechtsverletzungen herhalten soll, weder in Deutschland noch in Israel.