Mit großer Betroffenheit nimmt die Jüdisch-Palästinensische Dialoggruppe München Abschied von Judith Bernstein, die über Jahrzehnte hinweg eine unserer prägendsten Stimmen, eine unermüdliche Brückenbauerin und eine moralische Orientierung war. Ihr Tod hinterlässt eine Lücke, die wir schmerzlich spüren – in unserer Arbeit, in unseren Diskussionen und in der gesamten Friedensbewegung.
Eine Stimme, die weit über München hinaus Gehör fand
Judith Bernsteins Wort hatte Gewicht. Sie sprach klar, furchtlos und gewaltfrei – und sie wurde gehört. Weit über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus war sie eine gefragte Gesprächspartnerin, eine öffentliche Stimme für Menschenrechte, für internationale Verantwortung und für eine Politik der Verständigung zwischen Israelis und Palästinensern.
Viele Menschen im deutschsprachigen Raum haben Judith nicht nur als Aktivistin wahrgenommen, sondern als moralische Instanz: eine Frau, die hinschaute, nachfragte und Widersprüche offenlegte. Sie tat dies immer mit dem Ziel, Gewalt und Ungerechtigkeit zu verringern – nie, um Menschen bloßzustellen oder zu verurteilen.Eines ihrer Leitmotive, das sie mit ruhiger, aber unerschütterlicher Entschiedenheit immer wieder ausgesprochen hat, war:
„Auschwitz kann kein Freibrief für Menschenrechtsverletzungen sein.“
Dieser Satz war für sie nicht nur eine Mahnung, sondern Ausdruck eines tiefen humanistischen Verständnisses: Der Holocaust verpflichtet uns, wachsam zu bleiben – nicht nur gegenüber Antisemitismus, sondern gegenüber jeder Form von Entrechtung, Unterdrückung und staatlicher Gewalt. Für Judith galten Menschenrechte stets universal und unteilbar.
Brücken bauen, wo andere Mauern sehen
Judith besaß eine seltene Fähigkeit: Sie konnte kritisieren, ohne zu verletzen – und zuhören, ohne sich vereinnahmen zu lassen. In unserer Dialoggruppe war sie jemand, der Spannungen nicht scheute, sondern aktiv aufsuchte. Sie glaubte fest daran, dass Begegnung der einzige Weg ist, Verhärtungen zu lösen.
Dabei brachte sie ihre eigene Lebensgeschichte ein: als in Jerusalem geborene Jüdin, als politisch engagierte Bürgerin Münchens, als jemand, der gleichzeitig emotional und analytisch denken konnte. Wer mit ihr sprach, merkte schnell, wie tief ihr Wissen über die Geschichte und Politik des Nahen Ostens war. Aber ebenso spürte man ihre Empathie für menschliche Schicksale – Juden wie Palästinenser.
Sie sagte oft, Dialog sei kein Wohlfühlprojekt, sondern ein mühsamer, konfliktreicher Prozess. Doch genau deshalb sei er unverzichtbar.
Zivilcourage in schwierigen Zeiten
Judith scheute sich nie, Position zu beziehen – gerade dann, wenn gesellschaftliche Stimmungslagen von Angst, Vorurteilen oder Vereinfachungen geprägt waren. Sie hielt den Druck aus, den man auf Menschen ausübt, die der Mehrheitsmeinung widersprechen. Sie hielt Anfeindungen aus, auch öffentlichen. Und sie hielt daran fest, dass Meinungsfreiheit und offene Diskussion Grundbedingungen einer funktionierenden Demokratie sind.
Viele von uns erinnern sich an Veranstaltungen, in denen ihre ruhige Stimme den Raum veränderte: weil sie präzise formulierte, weil sie die historische Dimension nicht vergaß, und weil sie trotz aller Härten des Themas an die Möglichkeit gerechter Lösungen glaubte.
Ein Leben im Dienst der Erinnerung und der Zukunft
Neben ihrem Engagement für Frieden setzte Judith sich intensiv für Erinnerungskultur ein. In München wirkte sie an Projekten wie den Stolpersteinen mit, und sie erinnerte immer wieder daran, dass Erinnern nie statisch sein darf. Für sie war Erinnern ein aktiver moralischer Prozess – eine Verantwortung, die gegenwärtiges Handeln leitet.
Ihre Arbeit in Netzwerken der Friedenspolitik – gemeinsam mit ihrem versorbenen Ehemann Reiner Bernstein ebenso wie an der Seite vieler Mitstreiterinnen und Mitstreiter – trug dazu bei, dass alternative Stimmen im Nahostdiskurs sichtbar blieben. Judith glaubte fest daran, dass auch kleine Schritte des Dialogs langfristig Wirkung entfalten.
Ihr Vermächtnis
Judith Bernstein war eine unersetzliche Stimme in unserer Gruppe, eine kritische Denkerin, eine menschliche Wegbegleiterin. Sie hat uns gelehrt, mutiger zu sein, genauer hinzusehen, Fragen hartnäckiger zu stellen – und gleichzeitig nie den Menschen hinter der politischen Position aus dem Blick zu verlieren.
Wir trauern um eine Freundin, um eine Visionärin.
Wir trauern um eine Frau, die uns – und viele andere – gelehrt hat, was es bedeutet, für Frieden zu arbeiten, auch wenn der Weg dorthin lang ist.
Unsere Gedanken sind bei ihrer Familie und allen, die mit ihr verbunden waren.
Ihre Stimme wird uns fehlen.
Ihr Vermächtnis wird weiterwirken.
Und wir werden unseren Dialog in ihrem Sinne fortführen.